Die politische Debatte über die aktuelle Geldpolitik der EZB ist dadurch gekennzeichnet, dass die Vorgänge von Geldentstehung und Kreditvergabe und die bilanzielle Erfassung dieser Prozesse in der breiten Öffentlichkeit nicht bekannt sind.
Dazu ist es gekommen, weil die herrschende Richtung der Wirtschaftswissenschaft, die neoklassische Lehrmeinung, diese Frage nach der Entstehung von Geld mit ihren von den wirklichen ökonomischen Prozessen entfernten Modellen systematisch nicht erfassen kann oder will. Von Seiten der Politik wird in der Regel der neoklassischen Sicht in ihren verschiedenen Varianten gefolgt, so dass von der politischen Seite diese Vorgänge überwiegend nicht verstanden werden. Das führt dazu, dass die Vergabe von Krediten als Vergabe von Ersparnissen oder von Steuermitteln (bei Rettungsmaßnahmen in der Eurozone) verstanden wird. Diese Sicht ist falsch.
Wir kennen zwei Verfahren der Geldschöpfung „aus dem Nichts“ ( Joseph Schumpeter). Einmal die Schöpfung von Buch- oder Giralgeld durch die Geschäftsbanken über die Vergabe von Krediten (die Einlagen der Sparer spielen nur eine geringe Rolle). Die Kredite werden den Konten der Kreditnehmer gutgeschrieben und in den Bilanzen der Bank auf der Aktivseite als Forderungen und auf der Passivseite als Fremdkapital verbucht. Durch die Vergabe von Krediten kommt es daher zu einer Bilanzverlängerung, also einer Erhöhung der Bilanzsumme. Für dieses neu geschaffene Kreditgeld müssen Mindestreserven (seit 2012 1%) bei der Zentralbank hinterlegt werden. Das wird dann Zentralbankgeld. Auch die Schöpfung dieses Geldes ist nicht begrenzt. Die Zentralbanken schaffen dieses Notenbankgeld und lassen Geldscheine drucken, der Staat die Münzen herstellen lässt. Keynes hat das als „Fiat Money“ bezeichnet. Dieses Geld ist die sog. Geldbasis oder die Geldmenge 0. Die weiteren Geldmengen M1, M2 und M3 erfassen auch die Bankeinlagen des Publikums und bestimmte Finanzverpflichtungen zwischen den Geschäftsbanken.
Zur Durchsetzung der Geldpolitik verfügt die Zentralbank (hier die EZB) über das Instrument des Leitzinses (Hauptrefinanzierungssatz), der für Kredite an die Geschäftsbanken gilt. Kredite werden ausgereicht über sog. Offenmarktgeschäfte und Fazilitäten (Sonderkredite in Krisen). Die Entwicklung der Geldmenge kann durch eine sog. regelgebundene Geldpolitik oder durch die Beachtung eines Inflationsziels gesteuert werden. Das erste Konzept versucht das Wachstum der Geldmenge durch mathematisch fixierte Formeln zu steuern. Diese Modelle einer regelgebundenen Geldpolitik gehen auf den Monetarismus von Milton Friedman zurück und versuchen, das Wachstum der sog. Geldmenge zu begrenzen, um eine Inflation zu vermeiden. Das zweite Konzept verfolgt eine diskretionäre Geldpolitik, die nach dem Ermessen der Akteure geldpolitische Entscheidungen trifft. Das wird als in Anlehnung an die Geldtheorie von J.M. Keynes als neokeynesianisch bezeichnet. Die EZB hat zunächst in der Tradition der Deutschen Bundesbank eine monetaristische Geldpolitik verfolgt und ist in der Folge der Finanzmarktkrise auf eine diskretionäre Geldpolitik umgestiegen. Dieser Wechsel hat die Kritik der großen Mehrheit der deutschen Ökonomen, die nach wie vor monetaristisch denken, hervorgerufen. Diese deutsche Kritik steht im Gegensatz zu den geldpolitisch neokeynesianisch geprägten Entscheidungen der großen Notenbanken, was daran zu sehen ist, dass aktuell amerikanische und englische Ökonomen die expansive Geldpolitik der EZB gegen die Kritik deutscher Ökonomen verteidigen.
In der Finanzmarktkrise 2008/09 ist die EZB auf eine expansive Geldpolitik mit niedrigen Leitzinsen (also eine Verbilligung der Kredite an die Geschäftsbanken) umgeschwenkt und hat die Geldbasis (auch als Geldmenge M 0 bezeichnet) deutlich erhöht, um einen Zusammenbruch einer Reihe von Großbanken und in der Folge davon der Geschäftsbanken insgesamt zu verhindern. Von einem solchen Kollaps wären dann auch Versicherungen und Pensionsfonds getroffen worden. Sie hat diese Banken mit zusätzlichen Krediten und damit zusätzlicher Liquidität versorgt. Zugleich haben die Nationalstaaten mit weiteren Krediten die nationalen Banken zu stabilisieren versucht. Beide Maßnahmen zielten auf eine Begrenzung der Ausweitung und Vertiefung der Krise. Das ist in national unterschiedlichen Maß auch gelungen. Nach dieser Finanzkrise ist zwar durch diese Maßnahmen von EZB und Euro-Staaten der Übergang in eine tiefe Rezession verhindert worden. Es sind verschiedene „Rettungsschirme“ aufgespannt worden, unter deren Dach die Krisenländer sich flüchten konnten. Das waren zunächst der EFSF, die Europäische-Finanz-Stabilisierungs-Fazilität, die von 2010 bis 2012 Kredite der EZB an die Krisenländer in der Euro-Zone vergeben hat. Danach kam der ESM, genauer EFSM, der Europäische Finanz-Stabilsierungs-Mechanismus, eine eigene Institution, die Kredite vergibt und mit bestimmten haushaltspolitischen Auflagen kombiniert hat. Trotz (oder wegen) dieser Maßnahmen ist die Konjunktur in der Eurozone ist nicht spürbar angesprungen bzw. in einer Stagnation verharrt. Das geht zum einen auf die durch Deutschland diktierte Austeritätspolitik (Sparen um jeden Preis) zurück, zum anderen auf die starke Exportposition der deutschen Wirtschaft, die andere Länder zur Fortführung einer hohen Verschuldung zwingt, weil sie ihre Leistungsbilanzdefizite im wirtschaftlichen Austausch mit Deutschland über Kreditaufnahmen finanzieren müssen. Das ist der Zusammenhang, den die SPD nicht verstehen kann, weil sie diesen Export von Arbeitslosigkeit in andere Länder der Eurozone als Resultat der durch die sog. Arbeitsmarktreformen erhöhten deutschen Wettbewerbsfähigkeit sieht. Würden die anderen Länder sich nicht entsprechend verschulden, würden die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse nicht finanziert werden können. Würden die anderen Länder die deutsche Wettbewerbsfähigkeit erreichen, würde das deutsche Modell ständiger Leistungsbilanzüberschüsse beendet sein und die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich steigen.
In dieser Situation, die durch das Fehlen fiskalpolitischer Impulse, also verstärkter öffentlicher Nachfrage, die von den exportgetriebenen Ländern wie Deutschland, Niederlande, Österreich ausgehen müssten, versucht die EZB die Möglichkeiten der Geldpolitik voll auszuschöpfen. Sie hat das OMT ( Outright Monetary Transactions) genannte Programm gestartet und kauft auf dem Sekundärmarkt von den Banken Staatsanleihen und andere Wertpapiere, um die Bilanzsummen der Banken zu verringern und bezahlt negative Zinsen (- 0,3%) auf die Einlagen der Geschäftsbanken, um diese zur Kreditvergabe an Unternehmen und Haushalte zu nötigen. Das Zinsniveau ist deshalb deutlich gesunken, weil es insgesamt ein enorm großes Geldkapitalangebot gibt, dass sich aus der Menge von Ersparnissen („Savings Glut“) und der Kredit- und damit Geldschöpfung des Bankensystems zusammensetzt. Dahinter steht die Zunahme der Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung wie sie Thomas Piketty u.a. analysiert haben. Die EZB blockiert mit ihrer expansiven Geldpolitik die „reinigende“ Funktion einer schweren Wirtschaftskrise, durch die es zu massiven Kapitalschnitten (Marxisten sprechen von der Entwertung von Kapital) durch massenhafte Konkurse und hohe Arbeitslosigkeit kommt. Diese „Reinigungsfunktion“ der Krise haben wir in der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 32 erlebt, in der die Zentralbanken eine entgegengesetzte Geldpolitik der Begrenzung der Geldmenge verfolgt hatten. Damals hatten die marxistischen Ökonomen der SPD, wie Rudolf Hilferding, nicht verstanden, dass mit einer Kredit- und Geldschöpfung Beschäftigungsprogramme, wie sie die Gewerkschaften mit dem WTB-Plan ( Woytinski-Tarnow-Baade-Plan) hätten finanziert werden können.
An die Stelle eines ökonomisch katastrophal wirkenden groß dimensionierten Kapitalschnitts (der Vermögen und Schulden gleichermaßen trifft, weil sich Schulden und Vermögen 1:1 entsprechen und in der Welt zu Null saldieren), ist ein allmählicher Schulden- und Vermögensabbau getreten, der diesen Prozess erheblich verlangsamt. Durch niedrige Zinsen werden Schuldner entlastet und Gläubiger belastet; das Gerede von einer Umverteilung von unten nach oben ist aus makroökonomischer Sicht falsch. Es werden insbesondere die Staaten durch niedrigere Zinsen für die Staatsschulden entlastet. Daneben werden Banken mit niedrigen Eigenkapitalquoten (und einer hohen Bilanzsumme) einerseits unterstützt. Andererseits verkürzen sich mit den niedrigen Zinsen ihre Zinsmargen im Kreditgeschäft. Ferner werden die Privathaushalte mit den niedrigsten Einkommen entlastet. Es gibt aber unerwünschte Nebenwirkungen einer expansiven Geldpolitik: durch das billige Kreditgeld wächst die Gefahr der Blasenbildung an den Börsen und Immobilienmärkten. Auch die kapitalgedeckte Alterssicherung, die sich in der Rolle des Gläubigers befindet, leidet darunter, weil die Anlagemöglichkeiten für hohe Renditen fehlen. Es zeigen sich in dieser Situation die systemischen Schwächen einer kapitalgedeckten Alterssicherung. Sie werden zwar unter dem Stichwort einer drohenden Altersarmut diskutiert, sind aber offensichtlich nicht verstanden worden.
Diese Geldpolitik allein führt aber nicht zu einer Belebung der Konjunktur, sie verhindert nur eine tiefe Rezession. Die Geldpolitik allein kann eine stagnierende Konjunktur nicht ankurbeln. In einer solchen Situation muss eine expansive Fiskalpolitik, also eine Ausweitung der staatlichen Nachfrage durch verstärkte öffentliche Investitionen und einen höheren staatliche Konsum diese Geldpolitik unterstützen. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Das liegt in erster Linie an CDU und CSU und den sie beratenden neoklassischen Ökonomen, die von der Ideologie eines ausgeglichenen Staatshaushalts besessen sind. Die SPD dagegen hat vermutlich keine eigene Position zur Geldpolitik der EZB, die sie wie Äußerungen von Sigmar Gabriel zeigen, offensichtlich nicht verstanden hat oder sie orientiert sich instinktiv an der monetaristischen Sicht, sie agiert aber auch in der Fiskalpolitik konzeptlos, wenn sie sich nicht ebenfalls instinktiv an dem Ideal eines ausgeglichenen Staatshaushaltes („Schwarze Null“) orientiert.
Auch in der linken Opposition zur Bundesregierung herrscht in diesen Fragen eine ziemliche Verwirrung. Die meisten Marxisten wollen die Möglichkeiten des Bankensystems, ohne Limit Geld zu schaffen, nicht wahrhaben, weil das ihren Vorstellungen von den „Großen Krise“ und einem nahen Ende des Kapitalismus und einer notwendigen Entwertung von Kapital und Arbeit, also einer Verschärfung der Krise widerspricht (siehe auch Streeck). Auch hat zu Marx‘ Zeit der Goldstandard für den internationalen Geldverkehr („Weltgeld“) noch gegolten und Marx konnte die zukünftige Entwicklung des Geldes nicht vorhersehen. Deshalb ist Geld für ihn Geldware und hat einen eigenen Wert. Aus einer ökosozialen oder ökoromantischen Sicht wird ausschließlich auf die Geldpolitik und die Geldschöpfung zu reagieren versucht. Alte Konzepte, wie das ohne Zinsen funktionierende „Freigeld“ (Silvio Gesell) oder das „Vollgeld“ bzw. das sog.“100 %-Money“ (Irving Fisher) werden aus ihren historischen Kontexten gerissen und zu aktualisieren versucht. Der harte Kern dieser Vorschläge besteht darin, dass vorhandene Geld zu begrenzen und das Horten von Geld unmöglich zu machen bzw. die Kreditvergabe radikal zu begrenzen. Diese „alternativen“ Konzepte haben daher eine ideologische Nähe zum Monetarismus. Ein klassischer monetaristischer Vorschlag besteht in dem von Friedman selbst vorgeschlagenen „Helikoptergeld“. Hier soll „exogen“ also von außen Geld zur Förderung der Nachfrage in den Wirtschaftskreislauf eingeführt werden, ein offen unsozialer Vorschlag, weil jeder Bürger die gleiche Geldsumme erhalten soll. Diese Konfusion der politischen Linken basiert darauf, dass sie aus durchaus unterschiedlichen Motiven die Geldtheorien von Schumpeter, Keynes und deren Nachfolgern nicht verstanden haben oder nicht verstehen wollen. Im Fall der SPD ist das geradezu tragisch, da sie früher eine eher keynesianisch inspirierte Wirtschaftspolitik durchzusetzen versuchte. Der damit verbundene makroökomische Sachverstand ist ihr durch Schröder & Co. erfolgreich ausgetrieben worden. Es hat also ein Zurückfallen hinter einen bereits erreichten Kenntnisstand stattgefunden. Warum das passieren konnte, obwohl es dieses Wissen objektiv gibt und es nur nachgefragt werden muss, ist eine andere Frage, die hier nicht beantwortet werden kann.
Michael Wendl studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in München und Berlin. Berufliche Tätigkeit in der Flugzeugindustrie, von 1980 bis Anfang 2016 als Gewerkschaftssekretär bei ÖTV und ver.di, 1984 bis 86 Vorsitzender der bayerischen Jungsozialisten, 1995 bis 2001 Vorsitzender der bayerischen ÖTV, Mitherausgeber der Zeitschrift ‚Sozialismus‘. Dieser Beitrag im DL21 Blog stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Meinung des Forums Demokratische Linke 21 e.V. oder die Meinung anderer Autoren dieser Seiten wiedergeben.