Prof. Dr. Henning Höppe, Erklärung zum Austritt aus der SPD

Prof. Dr. Henning Höppe, Erklärung zum Austritt aus der SPD

29. Juni 2021

Meine Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands endet nach fast 27 Jahren zum 31. Juli 2021. Alle Ämter innerhalb der Partei lege ich mit Wirkung zu diesem Tag nieder. Ich habe mich zu diesem Schritt nach langer, reiflicher Überlegung und langem Mitleiden an meiner Partei entschlossen. Als Genosse wird man für Positionen und Entscheidungen der Partei, ihrer Fraktionen und Regierungsmitglieder mehr oder weniger in Mithaftung genommen. Man muss sich dazu verhalten. Dafür werbend. Unterstützend. Verteidigend. Kritisierend. Bisweilen auch bekämpfend.

Genoss*innen, die mich gut kennen, wissen, dass mir immer wichtig ist, die Vision des demokratischen Sozialismus in einer solidarischen, gerechten und freien Welt mit Nachdruck zu verfolgen. Deshalb schrieb ich meine ganz persönliche Vision im Leitbild von der Resilienten Gesellschaft nieder Das Leitbild der resilienten Gesellschaft (PDF, 109 kB) Wer mich kennt, weiß auch, dass ich stets dafür werbe, dieses Leitbild realpolitisch zu verfolgen. Mir ist selbstverständlich auch klar, dass viele Ideen weder sofort noch auf direktem Weg erreichbar sind. Weil Mehrheiten fehlen ― in der Partei, aber insbesondere in den Parlamenten im Ringen mit Koalitionspartnern oder aus der Opposition heraus - oder sich die Rahmenbedingungen im Zuge von Notlagen plötzlich ändern.

Vor diesem Hintergrund enttäuschen mich Entscheidungen für Konzepte und Gesetze ganz besonders, die meines Erachtens den sozialdemokratischen Grundwerten Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit ― und damit unserer Vision ― klar widersprechen. Es ist schlimm, wie viele es davon in den letzten Jahren gab. Und diese sind wesentliche Gründe für meinen heutigen Schritt:

• die Entscheidung, die Länder des Maghreb zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, obwohl dort LGBTIQ-Menschen bis hin zum Tod verfolgt werden. Die SPD verhält sich hier weder solidarisch mit Geflüchteten noch gerecht gegenüber LGBTIQ-Menschen.

• die Weigerung, die besondere Bedürftigkeit von Grundsicherungsempfänger*innen insbesondere während der Coronakrise (aber auch davor) anzuerkennen und auf eine teilhabesichernde Höhe der Grundsicherung hinzuwirken. Das dröhnende Schweigen der gesamten Parteispitze zu den Armutsberichten des Paritätischen Wohlfahrtverbandes im Herbst 2019 und zuletzt 2020, in dem die unfassbare Rekordzahl von 13 Mio. Armen in Deutschland berichtet wurde, passt in das entstandene Bild. Wer Umverteilung im Land vernachlässigt, wer unterm Strich Armutsbekämpfung vernachlässigt, darf sich nicht wundern, dass immer mehr Menschen „nicht erreicht“ werden und sich Verschwörungserzählern anvertrauen. Der darf sich im Übrigen auch nicht wundern, dass „uns diese Menschen sowieso nicht wählen“.

• die Weigerung, die Überwindung der sog. Agenda 2010 endlich entschlossen voranzutreiben. Es wurde nicht einmal ansatzweise versucht, das von Andrea Nahles initiierte Sozialstaatskonzept in Gesetze zu gießen; dieses wäre immerhin der Einstieg in die Überwindung von Hartz IV gewesen, um dann auch das entwürdigende Sanktionssystem zu überwinden. Dabei nimmt solidarische Sozialpolitik nicht nur die „Angst im Sozialstaat“ (Studie der F.-Ebert-Stiftung, Angst im Sozialstaat - Hintergründe und Konsequenzen (PDF, 74 kB) , sondern führt zu Sicherheit, sozialer und politischer Resilienz ― und entzieht dem Rechtsradikalismus eine wesentliche Grundlage. Das Festhalten an wesentlichen Ergebnissen und Protagonisten dieser sog. Agenda 2010 ist unsolidarisch mit denen, die Unterstützung benötigen.

• die zunehmende Wissenschaftsleugnung in Zeiten der COVID19-Pandemie, das Ignorieren wissenschaftlicher Evidenz und der wiederholt vorgetragenen Empfehlungen der breiten Mehrheit der Epidemiologen und Virologen weltweit, wie die Folgen der Pandemie für Menschen und auch das Gewerbe durch eine Niedriginzidenzstrategie minimiert werden könnten.

• die Zustimmung zur Entwicklung des FCAS-Systems unter Einbeziehung atomwaffenfähiger Waffensysteme und bewaffneter Drohnen. Mit dieser Entscheidung wird auch die zunächst unklare Positionierung zur Frage der Bewaffnung von Aufklärungsdrohnen der Bundeswehr präzisiert. Nach einem Beschluss dagegen im Dezember 2020 wurde im März eine Arbeitsgruppe der Partei eingesetzt, die eine Lösung erarbeiten soll; aus rein logischen Erwägungen kann das nur bedeuten, dass hierbei Rahmenbedingungen für die Bewaffnung gefunden werden sollen, unter denen die SPD dieser zustimmen kann. Damit verabschiedet sie sich damit einmal mehr vom Projekt der Friedenspartei.

• die Entscheidung, beim zentralen Zukunftsthema der sozial-ökologischen Gerechtigkeit zur Abschwächung und Bewältigung des von Menschen verursachten Klimawandels weniger auf naturwissenschaftliche Evidenz zu setzen, sondern stets kompromiss- statt lösungsorientiert zu verhandeln. Nur so kann man verstehen, dass ein Klimapaket bejubelt wird, das in Fachkreisen als weitgehend wirkungslos bezeichnet wird. Wir haben schlicht nicht mehr die Zeit, auf Kompromisse mit der Natur zu setzen ― der Planet verhandelt nicht, er folgt Naturgesetzen. Hier zeigt sich eine beunruhigende Parallele zum Verhalten während der aktuell laufenden Pandemie.

• die Entscheidung, zugunsten eines Kompromisses in der GroKo bei der Neugestaltung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag durch künftigen Nichtausgleich von Überhangmandaten die Gleichwertigkeit jeder Stimme aufzugeben und der größten Partei einen systematischen Vorteil zu verschaffen.

• die Entscheidung, den Nachrichtendiensten des Verfassungsschutzes die Nutzung von Staatstrojanern zum Ausspähen zu gestatten und damit alle Menschen im Land unter Generalverdacht zu stellen. Denkt man den Staatstrojaner anstatt in der digitalen in der realen Welt, bedeutet das, dass der Staat Generalschlüssel zu allen Wohnungen erhält ― in der digitalen Welt entspricht das der Pflicht von Providern, Hintertüren offen zu lassen.

• die Entscheidung, die Entwürfe zum Selbstbestimmungsgesetz abzulehnen und im Wesentlichen aus reiner Koalitionsdisziplin an einer diskriminierenden Praxis gegenüber Trans-Menschen festzuhalten ― gleiches gilt für die Entscheidung, am Blutspendeverbot für LGBT festzuhalten. Und nein, es hilft nicht, am Tag davor oder danach mit Regenbogenfähnchen zu wedeln oder Regenbogenkacheln zu posten.

• die Entscheidung, ein Grundprinzip rechtsstaatlicher Rechtsprechung aufzuweichen ― das Verbot, jemanden desselben Verbrechens selbst nach zwischenzeitlichem rechtskräftigem Freispruch mehrfach anzuklagen („ne bis in idem“); die Koalition öffnet damit eine Büchse der Pandora und untergräbt die Unschuldsvermutung. Es ist bezeichnend, dass sich das Bundesministerium der Justiz nicht an diesem Vorhaben beteiligt hat.

Der Neoliberalismus ist folgend dem Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ein Menschenbild, das dem Menschen die Verantwortung für das eigene Schicksal zuschiebt ― im Guten wie im Schlechten. In der Folge sind allzu hohe Steuern für Vermögende und Menschen mit hohen Einkommen zu vermeiden und für die, die wenig haben (sind daran ja selber schuld) gilt: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“. Dieses neoliberale Menschenbild ist leider nach wie vor tief in der SPD verankert: Grundsicherung ja, aber bitte nicht ohne Sanktionen. Grundsicherung ja, aber bitte so niedrig, dass gesellschaftliche Teilhabe verhindert wird.

Die SPD hat ihren Kompass trotz eines erhofften Aufbruchs „in die neue Zeit“ nicht neu ausgerichtet, die neuen Parteivorsitzenden haben wesentliche Versprechen nicht einmal ansatzweise umgesetzt bzw. wurden daran gehindert. Die dringend notwendige inhaltliche Rückbesinnung auf unsere alten Werte hätte personelle Konsequenzen haben müssen, die jedoch nie gezogen wurden ― stattdessen wurde ein Protagonist der Agenda 2010 sogar Kanzlerkandidat, andere sind Minister geblieben.

Ich erlebe, wie der Machiavellismus in der Partei immer weiter wuchert, das "gute Regieren“ um jeden Preis zur Maxime erhoben wurde ― auch wenn es oft darum geht, nur den Rockzipfel irgendeines Partners ein wenig halten zu dürfen. Dieser Machiavellismus, bei dem sich Genoss*innen auch gerne über Regeln und Parteiprogramm einfach hinwegsetzen und den sie euphemisierend Pragmatismus“ nennen, ist eine ganz wesentliche Ursache für den seit Jahrzehnten zu beobachtenden Niedergang der SPD. Hierbei repräsentiert Olaf Scholz den Machiavellisten schlechthin: kein Fehlerbewusstsein, keine Reue für Fehler, stets pragmatisch.

Die meisten Gründe für meinen Austritt haben sich über Jahre angesammelt, aber was ist nun der Anlass, der mich zum Austritt bewegt? Es sind deren zwei. Ein Anlass ist der Verlust der realistischen Hoffnung, dass die SPD in absehbarer Zeit auf den Weg zu einem demokratischen Sozialismus in einer gerechten, solidarischen und freien Welt zurückfinden wird. Ohne Einsicht in eigene Fehler, ohne Bekennen dieser eigenen Fehler und ohne Behebung dieser eigenen Fehler gibt es keine Hoffnung. Der zweite sehr konkrete Anlass sind die Entscheidungen zu Staatstrojanern und zur Aufweichung des Prinzips „ne bis in idem“. Letztere widerspricht mutmaßlich dem Grundgesetz Art. 103 Abs. 3 sowie Artikel 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“. Diese und die Entscheidung zur Aufweichung des „gleichen“ Wahlrechts zeigt mir, dass die SPD nicht mehr die Rechtsstaatspartei ist, in die ich 1994 eingetreten bin.

Ich wünsche unserer Sozialdemokratie von Herzen, dass sie wirklich beginnt, den Weg aus der neoliberalen Pampa zu gehen, Fehler erkennt, bereut und tatsächlich politisch korrigiert. Im engeren sozialdemokratischen Umfeld habe ich seit meinem Eintritt stets nicht-materielle Unterstützung erfahren, hierunter auch durch eine ganze Reihe Mandatsträger*innen auf Landes- und Bundesebene; namentlich möchte ich hierbei Leni Breymaier, Ulli Bahr, Hilde Mattheis, Saskia Esken, Florian von Brunn, Maria Noichl und Natascha Kohnen nennen; all diesen Menschen danke ich sehr herzlich für die tollen Diskussionen, für Erkenntnisse und für Freundschaft―diese guten Kontakte werden auch nicht abreißen. Denn demokratische*r Sozialist*in ist man im Herzen, nicht mit dem Parteibuch.

Freundschaft!

Henning Höppe

Kontakt per E-Mail (ich@henning-hoeppe.eu) oder via @hhoeppe (Twitter)

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